11.02.2008
In der zwölften Ausgabe der Elbmarsch-Post im Jahre 2008 erscheint der „7.Werkstattbericht“ über die Arbeit am Ölhof-Projekt.
Schein statt Sein in Neetze
Wie der Ölhof geschützt werden sollte – Günther Schwarz erinnert sich
Werkstattbericht „Ölhof 7“
Bleckede/Neetze Skaterbahn, Bolzplatz, Jugendzentrum:
Solch abgegrenzte Orte für Kinder und Jugendliche waren 1943/44 nicht vorgesehen. Günther Schwarz und seine Freunde fanden als 13-/ 14-Jährige ihren eigenen „Abenteuerspielplatz“ in Neu Neetze.
Auf den Spuren einer Scheinanlage
Wenn man heute westlich vom Milchberg unterwegs ist, am Stockkamp und Fraaschenweg die Sandwege quert, umfängt einen in der leicht hügeligen Landschaft der Wald und Feuchtigkeit in den Niederungen. In einem Gebiet ist das Nadelgehölz jünger: Hier breitete sich vor rund sechzig Jahren noch Heide aus. „Ja, die Heidelandschaft wird immer weniger“, Günther Schwarz muss es wissen. Er ist einer der letzten traditionellen Heide-Imker in der Region. An seiner großen Scheune stehen noch ein paar Körbe neben den heute üblichen Holzkisten für die Bienenvölker. 1943 hatte Schwarz noch anderes im Sinn, streifte mit seinem Bruder Ernst und den Kumpeln Walter Bostelmann und Hermann Genz nach der Schule durch den Wald. Helmut Hamer war auch dabei, so berichtet der heute über 70-Jährige Schwarz. „Wie haben sie denn das hier gefunden?“ Links von Weg erkennt man die jüngeren Bäume – der Ort, den Schwarz als Zeitzeuge zeigen will. Rechter Hand gegenüber befand sich ein Erdunterstand. Nur wer, wie Henning Bendler weiß was er sucht, entdeckt unter dem Hügel, der aussieht wie andere auch hier am Geestrücken, die Reste des Unterstandes, die in Kriegszeiten ausgehobene Grube.
„Wie wir die Anlage gefunden haben? Man hat ja Pilze gesucht“, antwortet Schwarz. Hermann Genz – ein Hamburger Waisenjunge, der bei den Nachbarn Soetbeers wohnte – hat zuerst davon erzählt. Mitten hier in der Landschaft verliefen zwei Gleise parallel zweihundert Meter ins Nichts und darauf: zwei Lokomotiven. „Wir Kinder dann natürlich sofort rin und das Ganze in Gang geschoben“. Kein Problem für kräftige Dreizehnjährige, denn das Ganze war akkurat aus Holz gefertigt und für Jugendliche in Optimalgröße, ein Drittel kleiner als eine original Eisenbahn. Die Metallräder liefen auf Dachlatten, die Jungs bekommen richtig Schwung.
Holz statt Eisen – Latten statt Gleise
Sie haben eine so genannte Scheinanlage entdeckt. Aus Holz und Tuch gefertigte, schwarz lackierte Loks und ihre Holzgleise täuschen von der Luft aus gesehen eine im weiteren verdeckten Gebiet sich lang hinstreckende Industrieanlage vor. Selbst Strom wird hergeschafft: Vom benachbarten Hof verlaufen Leitungen zu Masten mit Laternen. So konnte auch nachts durch spezielle Beleuchtung eine Industrieanlage simuliert werden.
Ja, fällt denn jemand auf so etwas rein?
Ein Blick auf alte Luftbilder dieser Gegend zeigt: Allein von oben betrachtet, sind die Waldwege kaum von den südlich verlaufenden Schienenwegen zu unterscheiden. Eine Abzweigung an dieser Stelle um Material heranzuschaffen für ein wie auch immer geartetes großes Unternehmen erscheint durchaus wahrscheinlich. Die einzige wirkliche Anlage dieser Art befindet sich 1944 nicht in Neetze, sondern in Bleckede. Es ist das in großem Stil ausgebaute Marinenachschublager, der Ölhof. In auffällig gleich gestalteter Landschaft, wie die Scheinanlage bei Neetze, zwischen Hügeln, Senken und Bäumen liegt die Anlage, von der abgelenkt werden soll. Ein Bombenabwurf auf die Schweröltanks wäre fatal gewesen. Die Scheinanlage in Neetze ist nicht die einzige Einrichtung dieser Art im Zweiten Weltkrieg. Ganze Flughäfen wurden zum Schein nachgebaut, mit Rauch arbeitende Industrie vorgetäuscht, um die alliierten Bomberflotten bei ihren verheerenden Abwürfen in die Irre zu führen. Die Bomberpiloten orientierten sich auf ihrem Flug nach Kompass und Landmarken, wie Flüssen, Seen und Eisenbahnlinien. Verdunkelte Städte und Dörfer, dazu dezent beleuchtete Scheinanlagen sollten die Täuschung perfekt machen. In Neetze wurden indes die Hügel der Landschaft den Jungs zum Verhängnis: Günther Schwarz erinnert sich mit einem Lächeln: „Wir also rin in die Bahn, angeschoben und zack: Rin in den nächsten Baum.“ Das Ende der Fahrt in der Scheinlokomotive endet mit einem Schrecken. Gut zwei Wochen lassen sich die Jungs nicht wieder blicken. Als sie es dann nicht mehr aushalten und vorsichtig wiederkommen, da ist die Lok die Gleise wieder hoch geschoben worden und repariert. Die Scheinanlage wird regelrecht gewartet und die Loks hin und her bewegt. Schließlich macht nur Bewegung als Zeichen von Leben und Aktion die Anlage zum lohnenden Ziel.
Und der Effekt?
Ob es funktioniert hat? Bombenabwürfe gab es bei Neetze nicht. Nur einmal griffen englische Jagd-Flieger gezielt einen Zug an, der auf der richtigen Eisenbahnlinie zwischen Lüneburg und Neetze unterwegs war. Hierbei wurde der Lokführer getötet. Auf amerikanischen Luftbildern vom Herbst 1945 ist die Scheinanlage bei Neu Neetze schon nicht mehr zu sehen. Baumaterial wurde dringend gebraucht und aller Schein einer solchen Anlage hatte seinen Sinn verloren. Auch der Bleckeder Ölhof wurde nicht aus der Luft angegriffen, obwohl nachweislich die englische Luftaufklärung über dem Ölhof komplett war. Wovon abgelenkt werden sollte, das erschien den Engländern augenscheinlich schon sehr schnell kein lohnendes Ziel mehr zu sein. Die großen deutschen Kriegsschiffe, die das Mineralöl aus dem Ölhof in großem Maße gebraucht hätten, waren alle bereits ab Herbst 1941 versenkt. Die noch relevanten U-Boote brauchten Diesel und nicht das für die Einlagerung in Bleckede vorgesehene Schweröl. So erscheint die Scheinanlage bei Neetze zum Bleckeder Schutz im Nachhinein in der Geschichte des Ölhofes nur als eine kleine Episode am Rande. Günther Schwarz und seinen Freunden hat die Anlage immerhin einige fröhliche Stunden gebracht. Nach dem Unfall am Baum waren die Jugendlichen nicht das letzte Mal heimlich dort.
-EP-Redaktion/lh-
Quelle: Elbmarsch-Post, Boizenburger Str. 3, Postfach 170, 21354 Bleckede
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